Was bedeuten Olympische Spiele für Sie, Birgit Radochla?

Birgit Radochla (Foto: Juri Reetz)

Birgit Radochla (Foto: Juri Reetz)

Birgit Michailoff-Radochla (79), Turnen, Berlin, Silber am Sprung bei den OS 1964 in Tokio (erste olympische Medaille im Turnen für die DDR). Kosmetikerin, diplomierte Turn-Trainerin im Ruhestand

 

Birgit Michailoff-Radochla äußert sich in BewegtBerlin, Ausgabe 3-2024.   

 

 

Die Olympischen Spiele 1964 – das war das schönste Erlebnis, da will man als Sportlerin hin, es ist der Traum, ist das größte, was Sportler erreichen können, das bleibt für immer! Meine Silbermedaille am Sprung 1964 war die erste olympische Medaille für die DDR im Turnen. Das war der Vorläufer, der Beginn einer großen Turn-Ära, die sich dann entwickelt hat. Es hatte sich zuvor abgezeichnet in Prag zu den Weltmeisterschaften, da war ich schon im Endkampf beim Sprung.

 

Ich war schon zu Hause in Döbern in der Lausitz (Brandenburg) als Kind sportlich aktiv – mein Vater Helmut war selbst Turner, dann Trainer, und hat sehr viel für den Sport in seiner Region getan. Von 1956 bis 1961 war ich an der Kinder- und Jugendsportschule in Forst, dann von 1961 bis 1968 beim SC Dynamo Berlin. Ich habe drei Berufsabschlüsse: Als Kindergärtnerin (1966-1971), Kosmetikerin (1971-1973), habe dann von 1974 bis 1979 an der DHfK, Außenstelle Magdeburg, mein Sportstudium absolviert. Gearbeitet habe ich als Kosmetikerin im Sporthotel bis 1978, war dann Nachwuchs-Trainerin im TZ Brandenburger Tor bis 1990.

 

Ich bin ein positiver Mensch, mein Motto: Immer nach vorn schauen, der Sonne entgegen. Diese Einstellung, die ich auch durch den Sport erworben habe, hat mir in schwierigen Zeiten geholfen: Bei meiner Krebserkrankung vor 20 Jahren und nach dem Tod meines Mannes, mit dem ich 50 Jahre zusammen war. Und auch die direkte Hilfe erfuhr ich in diesen Zeiten durch die Gemeinschaft und die Freunde aus dem Sport.

 

Sport verbindet ungemein, wir sind wie eine Familie. Kürzlich hatten wir ein Olympia-Treffen bei Kerstin Gerschau, auch eine ehemalige Turnerin, mit erfolgreichen DDR-Olympioniken verschiedener Sportarten, das war großartig.

 

Wir ehemalige Turnerinnen treffen uns ohnehin regelmäßig. Wir sind gut vernetzt, ich erledige die Organisation für die jährlichen Treffen. Außerdem ist der Kontakt unter uns Berlinerinnen eng, da treffen wir uns auch mal auf kurzem Weg – zum Beispiel ich mit Irene Abel, der Mutter von Katja Abel. Im Sport ist es wirklich so: Freundschaften halten wie bei mir oft ein Leben lang, ohne Schranken und Barrieren – es ist wie eine große Familie.

 

Sportlich aktiv bin ich in einem Fitnessstudio für Frauen bei mir um die Ecke in Berlin-Mitte, dort belege ich Kurse, so bleibe ich fit und tu‘ was für meine Gesundheit.

 

Meine olympischen Erinnerungen … Zuerst an die Größe der Veranstaltung, an die gefühlte Verbundenheit mit der ganzen Welt und dass alle um die Höchstleistung kämpfen.

 

Für uns war schon allein der Flug ein Erlebnis, das war wie ein Flug auf den Mond … Man muss ja auch die damalige Zeit sehen – Berlin war geteilt und recht klein, man sah noch viele Kriegsschäden an den Gebäuden. – Es ging erst nach Kopenhagen, dann über den Nordpol, dann nach Tokio. Diese Stadt, diese Hochhäuser, die Hochstraßen, das war schon wie auf einem anderen Stern. Ich würde schon gern nochmal hinfahren, da hat sich sicher sehr viel verändert …

 

Dann das Olympische Dorf mit den vielen Einrichtungen, Restaurants, Clubs, Kaufhäuser, utopische Dinge … Damals waren Männer und Frauen räumlich noch getrennt, aber unvergessen bleiben die vielen Begegnungen und die Verbundenheit untereinander.

 

Immer in Erinnerung bleibt mir die Eröffnung der Spiele. Sie war viel kleiner als bei heutigen Spielen, aber es war ein tolles Erlebnis für das ganze Leben. Der Einmarsch der Delegationen – vorbei am Kaiser –, die Zeremonie, die Rede von Avery Brundage; der Eid vom Turner Takashi Ono, das riesige Stadion voll, der Jubel der Leute, die hunderte Tauben, die über das Stadion flogen – das bleibt mein Leben lang in Erinnerung.

 

Unsere Turn-Wettkämpfe standen für uns im Mittelpunkt, von den anderen Sportarten und von der Stadt haben wir nicht so viel gesehen. Und dann der Medaillengewinn!

Die Olympischen Spiele waren tolles Erlebnis, die mein Leben mit geprägt haben.

 

Zu Hause wurde ich wie eine Königin empfangen. Erst bin ich mit meinen Eltern im Trabi in ein Glaswerk in Döbern gefahren, wurde dort empfangen und beschenkt. In ganz Döbern gab es ein einziges Cabrio, das war geschmückt für mich und fuhr mich dann im Schritttempo durch die Stadt. Die Kinder hatten unterrichtsfrei, der Bürgermeister hielt eine Ansprache und auch ich musste sprechen …Die Olympiamedaille von einer Sportlerin aus dem kleinen Ort in der Lausitz, das war schon für die Leute ein großes Erlebnis. Im Jahr 2015 wurde in Döbern eine Sporthalle eröffnet, die hat unseren Namen: Radochla-Halle. Das ist eine wunderbare Würdigung der jahrzehntelangen Arbeit meines Vaters für den Sport und eine Würdigung meiner sportlichen Erfolge. Ich kann mich immer wieder darüber freuen.

 

Die Olympischen Werte sind unbedingt wichtig für den Nachwuchssport, nicht nur im Leistungsbereich. Das Wort vom gesunden Geist im gesunden Körper stimmt ja: Es ist unheimlich wichtig, sich zu bewegen, Sport zu treiben, in jedem Alter. Der Sport kommt heute viel zu wenig ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Es ist heute ohnehin ganz anders, alle gucken aufs Handy… Man kann nur immer wieder werben oder die Kinder ganz direkt an den Sport heranführen. Dazu tragen auch Olympische Spiele bei. Durch die Erfolge wird eine Sportart populär; die Kinder laufen ihr zu. Wobei es heute nicht einfach ist, wenn man das Ziel Olympia im Leistungssport verfolgt. Die Bekanntheit ist wichtig, die Sponsoren, es ist ja heute alles ausgerichtet aufs Geld.

 

In der Gesamtheit betrachtet, halte ich es für wichtig, mit den Kindern im Breitensport anzufangen. Ich denke, da wird nicht genug getan. Das fängt bei den Eltern an, geht über Kita und Schule.

 

Turnen ist dabei ganz wichtig. Da hat Jens Milbradt recht, wenn er sagt: Das erste Jahr im Turnen ist nie umsonst. Das ist wahr, es ist die Grundsportart, hier werden die ersten Grundlagen für Bewegungsabläufe gelegt. Was dann in der weiteren persönlichen Entwicklung auch kommt, ist egal – Hauptsache Sport! Aber es fehlen oft die Angebote in der Nähe, und auf der anderen Seite ist gerade in den Großstädten das Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche über den Sport hinaus riesig und sehr vielfältig. Und wenn man dann noch sieht, wie der Schulsport gestaltet wird …

 

Olympische Spiele in Berlin – da bin auf jeden Fall dafür! So eine große Veranstaltung bringt viele Leute zusammen und kann viel bewegen. Dennoch ist es ein zweischneidiges Schwert, es spielt so viel hinein – Wirtschaft, Politik und Sport. Ich bin auf den Fall für eine Bewerbung, wir brauchen das Verbindende, die große Gemeinschaft. Aber man muss die Bewerbung gut machen, nicht wie die von 2000 – die hatte zu wenig Esprit, fand ich.

 

Das internationale Frauenturnen hat sich total gewandelt, hat sich inzwischen weltweit etabliert. Nach der Wende in Osteuropa sind Länder hinzugekommen, die vorher keine Rolle gespielt haben und heute mit Weltspitzenturnerinnen dabei sind – zuerst die USA, dann Italien, die Niederlande, Großbritannien… Die Breite hat sich so verdichtet, da ist es manchmal bisschen Glückssache, wer an dem entscheidenden Tag in welcher Form ist.

 

Bei uns in Deutschland ging es in den 1990er Jahren erstmal bergab, dann hat es sich deutschlandweit bisschen aufgefächert. Aber die älteren Turnerinnen dominieren heute, es fehlt aus meiner Sicht die Breite. Natürlich sehe ich auch, dass es heute schwer ist mit dem Leistungssport, gerade in unserer Sportart. Sie steht auch zu wenig in der Öffentlichkeit, das ist ein bisschen traurig.

 

Für die Spiele in Paris drücke ich unserem Turn-Team die Daumen. Ich hoffe, dass die Männer sich gut schlagen, sie haben ja eine komplette Mannschaft am Start. Bei den Frauen mit drei Einzelstarterinnen sehe ich keine großen Chancen auf eine Medaille, aber ich drücke die Daumen, dass sie ihre Bestleistungen abrufen können. Und allen wünsche ich, dass sie das unvergessliche Erlebnis Olympische Spiele genießen können.



Weitere Quellenangaben / Informationen zum Artikel:
Die Fragen stellte: Sonja Schmeißer | Foto: Juri Reetz