F. L. Jahn und die Hasenheide
Günter Langrock, Landesvorsitzender des Berliner Turnerbundes von 1987 – 1991, erinnert in der Festschrift „50 Jahre Berliner Turnerbund“ an Friedrich Ludwig Jahn und den Beginn des Turnens auf der Berliner Hasenheide.
F. L. Jahn und die Hasenheide
Von Günter Langrock

So sah Friedrich Ludwig Jahn in seiner Berliner Zeit aus. Holzstich nach einem Bildnis von 1817, das Florian Clöter von Jahn erhalten hat.
Turnen und Sport haben sich nie so ganz davon lösen können, von Befürwortern wie von Gegnern stets in die Nähe von Politik und Wehrhaftmachung gerückt zu werden. Darum füllen auch die Schriften für und wider Jahn und die Deutsche Turnbewegung die Regale in Bibliotheken, Archiven und Museen. Es soll hier aus Anlaß des 50jährigen Bestehens des Berliner Turnerbundes (und auch des Deutschen Turner Bundes) die ewige Auseinandersetzung keineswegs fortgesetzt werden. In dieser Festschrift soll vielmehr Raum gegeben werden, sich an Friedrich-Ludwig Jahn und den Beginn des Turnens auf der Berliner Hasenheide zu erinnern. Immerhin haben sich der Berliner Turnerbund wie auch der DTB im Jahre ihrer Gründung 1950 in ihren Satzungen ausdrücklich auf Jahn und das von ihm begründete Turnen berufen. Trotz zwischenzeitlich wiederholter Satzungsänderungen ist dies bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Bei nahezu allen Anlässen zum Jahn-Gedächnis versammeln sich Turner aus Nah und Fern zu Füßen des gewaltigen Jahn-Denkmals auf der Berliner Hasenheide. Und auch dies ist ein Zeugnis der Jahn-Verehrung: die Berliner Turner haben die traditionelle Jahn-Gedächtnisfeier beim Deutschen Turnfest Berlin 1987 durch die Aufstellung nach Jahns Plänen angefertigter Turngeräte bereichert, wo am Schwebebaum, Schwengel und Klimmel am Vierbaum, Reck und Barren in Jahn’scher Turnkleidung geturnt wurde. Auch beim Weltturnfest Gymnaestrada Berlin 1995 wurden diese Turngeräte erneut aufgestellt und von Berliner Turnern in einer Feierstunde daran geturnt. Mehr noch, nach einem Rundgang mit Übungen am historischen Ort erhielten Turner und Turnerinnen, Generationen aus aller Welt nach erfolgreicher Teilnahme eine Erinnerungsurkunde vom Präsidenten des Berliner Turnerbundes Peter Hanisch überreicht. Auch eine historische Ausstellung im Messegelände, dem Austragungsort der Gymnaestrada, und eine Festschrift des Sportmuseums Berlin, gestaltet von Gerd Steins, Olympische Spiele vor dem Hallischen Thore würdigten Jahn und seine Turnbewegung.
Zweifellos wird man Jahn gerecht, wenn man ihn aus seinem eigenen schriftlichen Nachlaß zu Wort kommen läßt. Eine Art Vorankündigung seines Wollens finden wir bereits in dem 1810 erschienenen Werk Deutsches Volkstum: … Volkserziehung soll das Urbild eines vollkommenen Menschen, Bürgers und Volksgliedes in jedem Einzelwesen verwirklichen …
Als ein besonderes Mittel sah Jahn eine vielseitige, umfassende Leibesübung: Gehen, Laufen, Springen, Werfen und Tragen sind kostenfreie Übungen, überall anwendbar … die mit geringer, ja unbedeutender Ausgabe des Staates überall in Gang gebracht werden könnten … Schwimmen müßte eine Hauptkunst des flußreichen Deutschlands sein … Schlittern, Schlittschuhlaufen … Rudern, Steuern und Segeln … Fechten, Reiten und Voltigieren … nennt Jahn eine öffentliche Aufgabe, die es zu fördern gelte. Auch weist er hier bereits darauf hin, daß sich die Philanthropen durch eine moderne Schulpädagogik, besonders GutsMuths mit seinem Lehrbuch Gymnastik für die Jugend (1794) verdient gemacht haben. Und er ergänzt, leider fehlt noch immer ein GutsMuths für die weiblichen Leibesübungen.
Friedrich-Ludwig Jahn wird nach langen Irrjahren und Irrfahrten (1909) hier (in Berlin) heimisch. Mit Schülern des Neuköllner Gymnasiums Zum Grauen Kloster, wo er eine Lehrerstelle innehatte, ging er hinaus in Wald und Feld, die Zahl wuchs, es wurden Jugendspiele und einfache Übungen vorgenommen. … Eine Unzahl Knaben kamen zusammen, die sich aber bald nachher wieder verlief … Doch sonderte sich ein Kern heraus, mit dem dann im Frühjahr 1811 der erste Turnplatz in der Hasenheide eröffnet wurde. Der immer größer werdende Zulauf brachte es mit sich, daß von Jahr zu Jahr der Turnplatz erweitert, die Anlagen und Geräte erneuert und verbessert und der Platz selbst einige Male verlegt und den Anforderungen angepaßt werden mußte. Im Herbst und Winter mußten die Übungen im Freien eingestellt werden, aber mit den Turnfertigsten und Allgemeingebildetsten wurde eine Art Turnkünstlerverein gebildet, der Erfahrungen und Beobachtungen zusammentrug …
Wenn auch zuerst nur Einer als Bauherr den. Plan entworfen, so haben doch Meister, Gesellen, Lehrlinge und Handlanger treu und redlich gearbeitet und das Ihrige mit Blick und Geschick beigetragen …

Das Buch „Deutsche Turnkunst“ von F. L. Jahn
Nach etwa 5-jähriger Erprobung und Erweiterung der Übungsmöglichkeiten und Übungen erscheint 1816 das Standardwerk die Deutsche Turnkunst – zur Einrichtung der Turnplätze, dargestellt von Friedrich Ludwig Jahn und seinem engsten Mitarbeiter Ernst Eiselen.
Dem Vorbericht verdanken wir tiefere Einblicke in die Entwicklungsgeschichte. Hier wurden auch die Namen von Turnern festgehalten, die sich bisher besonders hervorgetan haben: von August Thaer wird berichtet, daß er damals bereits 60 Aufschwünge einerlei Art am Reck zustande brachte. Ebenso nennt er die Turner Pichon und Zenker, die beim Schwingen am Seitpferd bereits zu großen Meistern darin wurden. Nicht zuletzt widmet er seinem in den Freiheitskriegen gefallenen jungen Kollegen Friedrich Friesen ein bleibendes Denkmal ein Meister des Schwerts auf Hieb und Stoß, ein kühner Schwimmer, dem kein Deutscher Strom zu breit und zu reißend, ein riesiger Reiter in allen Sätteln gerecht, ein Sinner in der Turnkunst, die ihm viel verdankt.
Neben den ausführlichen Beschreibungen der Turnübungen und Turnspiele sowie einer Anleitung zur Errichtung der verschiedenen Turngeräte und -Stätten für Laufen, Springen und Werfen sind zweifellos die Abschnitte Über die Art wie die Turnübungen zu betreiben sind und die Turngesetze von ganz außer ordentlicher Bedeutung. Hier zeigt sich der Leibeserzieher Jahn in seiner geradezu genialen Fähigkeit, den Kern seiner Bemühungen sprachlich zu fassen. Sein großes Verdienst besteht nicht nur darin, mit dem Turnen in Berlin begonnen, sondern es in Wort und Schrift in alle deutschen Lande verbreitet zu haben. Er bediente sich eines geschickten Verfahrens, indem er viele seiner jungen tüchtigen Turner mit Empfehlungsschreiben in die Lande hinausschickte, um bei der Errichtung und der Inbetriebnahme neuer Turnplätze behilflich zu sein. So wurde die Deutsche Turnkunst zum Lehrbuch und zur Grundlage für die rasche Ausweitung des Turnens.

Das Buch „Deutsches Volksthum“ von F. L. Jahn
Wie bereits im Deutsches Volkstum ordnete Jahn seine turnerischen Leibesübungen eindeutig pädagogischen Zielen unter. Die Turnkunst soll die verloren gegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wieder herstellen, der bloß einseitigen Vergeistigung die wahre Leibhaftigkeit zuordnen … um im jugendlichen Zusammenleben den ganzen Menschen zu umfassen und ergreifen. Und weiter führt er aus: solange der Mensch noch hienieden einen Leib hat … wird die Turnkunst einen Hauptteil der menschlichen Ausbildung einnehmen müssen. Darum ist die Turnkunst eine menschheitliche Angelegenheit, die überall hingehört, wo sterbliche Menschen das Erdreich bewohnen … auch gedeiht sie nur unter selbständigen Völkern, und gehört auch nur für freie Leute … Jede Turnanstalt ist ein Tummelplatz leiblicher Kraft … Zeigen, Vormachen, Unterweisen, Selbstversuchen, Üben, Wettüben und Weiterlehren folgen in einem Kreislauf. Jahns Wirken war nicht nur das eines Wort und Redegewaltigen. Er selbst wird in vielen Zeugnissen von Zeitgenossen zugleich als hervorragender Turnkünstler dargestellt, so habe er u.a. in Eisenach bei einem Besuche mit seinen muskulösen Armen geturnt und eine Riesenwelle am Reck gezeigt. Darum durfte er aus eigener Erfahrung in der Turnkunst schreiben: Man trägt ein göttliches Gefühl in der Brust, sobald man erst weiß, daß man etwas kann, wenn man nur will. Gesehen haben, was anderen endlich möglich geworden, gewährt die freudige Hoffnung es auch zu leisten. Seine Vision von der sich immer weiter ausbreitenden Turnbewegung entnehmen wir jenen weit vorausschauenden Gedanken: wenn dann die gesamte Jugend erst eingeturnt ist, so wandern. die Turnfertigsten aus den kleineren Orten in den größeren. Von dort am folgenden großen Turntage die Preiserringer zur Gaustadt; und so an jedem kommenden Feste immer weiter zur Mark- und Landesstadt, bis sich endlich die besten Turner des ganzen Volkes am großen Hauptfest in der Hauptstadt treffen.
Eine günstige Weiterentwicklung des Turnens in allen deutschen Landen erwartet Jahn nicht zuletzt von der Vorbildrolle der Vorsteher einer Turnanstalt (Turnwart): er übernimmt eine hohe Verpflichtung … Er soll die jugendliche Einfalt hegen und pflegen, daß sie nicht durch frühreife Unzeitigkeit gebrochen werde. Darum stellte er in der Turnkunst auch zwölf Forderungen zusammen, die ein Turnlehrer erfüllen müsse: … er soll der Jugend kein böses Beispiel geben … sich während der Turnzeit aller solcher Genüsse enthalten, die der Jugend nicht geziemen (Tabak, Alkohol usw.) … stets leutselig sein und bleiben … nicht zu spät auf den Turnplatz kommen … auch den Schein von Schulsteifheit vermeiden … mit seinen Schülern und Zöglingen zu leben verstehen und umzugehen wissen, daß sie ihn als Menschen lieben und achten … als älterer Freund, als Ratgeber unter dem Turnervolk.
Und noch viele ungemein bedeutsame Lehrsätze, Forderungen und geradezu methodische Anmahnungen zu den Turnübungen selbst füllen dieses erste Turnbuch, so daß man annehmen darf, daß die Berliner Hasenheide zur geistigen und turnpraktischen Wiege der sich von dort aus entwickelnden Turnbewegung wurde.
Einer Aufstellung aus dem Jahre 1818 verdanken wir einen zahlenmäßigen Einblick in die Entfaltung des Turnens in Preußen: Auf 90 Turnplätzen wurden 4462 Turnende im Alter zwischen 12 und 20 Jahren betreut und ausgebildet.
Heute ist das Turnen nicht nur auf fast allen Erdteilen bekannt und hat sportlich als Kunstturnen im Olympischen Programm von Anbeginn (1896 in Athen) seinen festen Platz, sondern wird als große Lehrschau bei den Weltturnfesten, den Gymnaestraden, unter großer Beteiligung der Turnverbände aus aller Welt gepflegt und weiterentwickelt.
Weitere Quellenangaben / Informationen zum Artikel:
Quelle: Festschrift "50 Jahre Berliner Turnerbund"